Fediverse

30 Jahre mit der Kamera (2): Epic Fail – Tatort Dunkelkammer (Reloaded)

Düsseldorf, 1990 – „Sandra.“ Die tiefe Stimme von Hans klang ungehalten. „Ist sonst keiner da!?“ Die Frage klang nicht wie eine Frage. Die Frage klang wie ein Vorwurf. Ich schüttelte den Kopf. Und versuchte eine Erklärung, auch wenn die Abwesenheit der kompletten Fotoredaktion ja kein Umstand war, den ich irgendwie zu verantworten gehabt hätte. „Henry ist gerade zum Termin und Marc noch nicht vom Rathaus zurück und…“ Hans unterbrach mich. „Hast Du eine Kamera?“
Ich nahm auf einmal wahr, dass mein Herz schon schneller geschlagen hatte, seit der Redakteur die Tür der Fotobude aufgerissen hatte. Nun klopfte es so deutlich und nachdrücklich, dass mir jeder Schlag die Luft nahm, die ich so dringend für eine Antwort benötigt hätte.

Natürlich hatte ich immer meine alte Canon A1 dabei. An jedem Tag, seit dem ich als Aushilfe im Fotolabor der BILD Foto: CanonRedaktion in Düsseldorf angefangen hatte, hatte ich meine Canon A1 dabei gehabt. Jeden Tag in der Hoffnung auf die Chance, einen klitzekleinen Fototermin erhaschen zu können. Jeden Tag in der Hoffnung auf die Chance, einen klitzekleinen Platz im Blatt einnehmen zu dürfen. Und im Credit würde rechts vom Doppelpunkt mein Name stehen. Foto: Sandra Dick.

„Sandra!“ Ich holte Luft, schnappte mir meine Kameratasche, die unter dem Schreibtisch der Fotolaborantin stand, und nickte. „Ja, klar!“ „Dann komm.“

Mein erster wichtiger Fotoauftrag

Während ich dem Hünen hinterher stolperte und dabei nervös meine Tasche auf Filme, Blitz und Batterien überprüfte, kamen wir am Balken vorbei. Hans setzte die Redaktionsleitung knapp darüber in Kenntnis, dass er mich zum Termin mitnehmen würde. Rainke, der Chef, nickte hinter seinem Monitor, ohne aufzublicken. Paul, sein Vize, warf Hans einen kurzen Blick zu, in dem ich einen Hauch von Zweifel zu erkennen glaubte. Dann zwinkerte er mir aufmunternd zu. Mein Herz klopfte weiter.

Ich war 19 Jahre alt, arbeitete seit ein paar Wochen als Aushilfsfotolaborantin in der Fotoredaktion der BILD Düsseldorf, und ich wollte Fotoreporterin werden.

Ein, zwei Fotos hatte ich schon im Blatt gehabt. Einen Teaser von einem Mann, der irgendetwas zu irgendeinem Thema gesagt hatte. Und ein Haus von außen, unter dem dann in der BU stand: „In diesem Haus passierte es: Werner S. (48) prügelte hinter diesen Mauern auf seine wehrlose Freundin Sybille B. (34) ein.“

Doch war es diesmal anders. Ich hatte keine Ahnung, um was es ging, Hans hatte immer noch nichts weiter gesagt, aber ich wusste: Er war Polizeireporter. Und es war wichtig. Ich folgte ihm durch die Gänge, ins Parkhaus, stieg mit ihm in seinen Lada Niva ein. Und sagte auch nichts.

Während wir die Rampen des Parkhauses hinunter rollten, betrachtete ich den Mann am Steuer verstohlen von der Seite. Hans war irgendwie anders, als die anderen in der Redaktion. Ok, jeder war da „anders“. Aber Hans war anders „anders“. Hans fuhr eben Lada Niva, sah aus wie ein russischer Kopfgeldjäger und guckte auch so grimmig, unter seinen buschigen, grau melierten Augenbrauen. Er trug immer schwere Motorradstiefel und eine Lederjacke, denn wenn er nicht Lada fuhr, fuhr er seine MZ.

Fototermin mit Herzklopfen

Wir verließen das Parkhaus der Kö1 und fuhren durch die Innenstadt, über die Kniebrücke, auf die Autobahn. Ich betrachtete das schmucklose Armaturenbrett, schaute aus dem Fenster, atmete tief durch. „Wo fahren wir denn hin? Und was ist das für ein Termin?“ Hans schwieg. Als ich keine Antwort mehr erwartete, sagte er: „Raubüberfall. Juwelier. Mönchengladbach.“ Mein Herz klopfte.

Ich stellte mir vor was mich erwarten würde. Welche Fotos ich machen würde. Haus von außen, Schriftzug des Juweliers. Vielleicht Portrait des Juweliers. Wobei… „Gab es Verletzte?“
„Das hätte ich Dir schon gesagt.“ Ich atmete auf.

Nach 35 Minuten Fahrt erreichten wir den Juwelier in der Gladbacher Innenstadt. Ich stieg aus dem Lada, die Kamera in der Hand, die Tasche über der Schulter. Es würde nicht mehr lange hell sein, deshalb machte ich rasch Fotos von der Fassade, dem Schriftzug des Juweliers, dem Schaufenster, hinter dem die Auslagen jetzt leer waren.

Ein Mann öffnete uns die Glastür. Er begrüßte Hans mit einem Handschlag, mir nickte er zu. Dann gab er den Blick frei auf den Verkaufsraum. Es war ein kleiner Juwelierladen. Die Glasschaukästen standen offen, einzelne Schmuckstücke wie Ohrclips und Ringe lagen noch darin. Auf dem Boden stapelten sich kreuz und quer Schubkästen, ausgekleidet mit schwarzem Samt. Mehrere kleine Büsten, die sonst zur Präsentation von Ketten genutzt wurden, waren auf den Boden gefallen. Eine einzelne Perlenkette lag dazwischen. Und überall standen schwarze Karten mit Zahlen darauf: 7, 3, 9, 12… „Nichts anfassen, umstoßen, verrücken oder sonst wie verändern! Dies ist ein Tatort!“ sagte der Mann im Befehlston. Ich nickte. Dann wandte er sich wieder Hans zu, um ihm den Tathergang zu schildern. Und ich machte mich an die Arbeit.

Ein Tatort: Fotos aus allen Winkeln und Perspektiven

Erst verschaffte ich mir einen Überblick. Ich hatte keine besonders gute Weitwinkel-Optik damals, nur ein 35-17mm/f4.0. Und versuchte eine Stelle zu finden, von der aus ich möglichst viel vom ganzen Laden drauf bekommen konnte. „Mach Details!“ knurrte Hans mich an. Ich nickte. Er stellte dem Mann, der offenkundig ein Polizeibeamter in Zivil sein musste, weitere Fragen.

Ich fotografierte die Vitrinen, die achtlos zurück gelassenen Schmuckstücke, die Büsten, die Schaukästen, die offene Registrierkasse, die Schilder mit den Nummern der Spurensicherung, die Scherben neben den Schubfächern, den Riss im Samt. Ich machte Übersichten aus verschiedenen Perspektiven, legte die Kamera vorsichtig auf den Boden und fotografierte zwischen zwei Nummern hindurch. Ich machte auch ein Foto von Hans und dem Polizisten, doch Hans reagierte ungehalten: „Hey! Lass das!“ Der Polizist runzelte nur die Stirn. „Sie ist noch ganz frisch,“ sagte Hans zu ihm… „Seh ich…“ murmelte der Polizist.
Ich fotografierte die leere Auslage, den Blick aus dem Fenster, den Eingang, von innen, von außen…

„Hast Du alles?“

Ich sah mich um. Ich war sicher, nichts übersehen zu haben. Und nickte. Wir verließen den Laden, draußen hatte es bereits angefangen zu dämmern. Die Männer verabschiedeten sich, und bevor ich dem Polizisten die Hand geben konnte, schob Hans mich weg vom Laden zum Auto auf der anderen Straßenseite. Eine Polizeistreife näherte sich, hielt vor dem Juwelier, die Beamten unterhielten sich mit ihrem Kollegen. Und schauten zu uns rüber.

Hans startete den Wagen, wir fuhren zurück nach Düsseldorf.

Ich hatte hunderte Fotos gemacht…

Canon A1/Foto: Robert Basic

Mit so einer Canon A1 habe ich meine ersten professionellen Fotos gemacht. Tatsächlich gelang mir das auch das eine oder andere Mal 😉
Foto: Robert Basic

Auf meinem Schoß hielt ich meine Kamera fest in meinen Händen. Mein Herz hatte wieder angefangen zu klopfen. Während der ganzen Zeit beim Juwelier war ich wie in einem Rausch gewesen, hatte mich auf die Motive und Perspektiven konzentriert und hunderte Fotos gemacht – zumindest hatte es sich so angefühlt. „Hunderte Fotos… hunderte.“ tanzte es in meinem Kopf.

Ich starrte auf die Kamera in meinen Händen. Hunderte Fotos. Ich drückte den Auslöser. Ich zog den Spannhebel nach rechts. Die Filmkurbel bewegte sich nicht. Mir wurde heiß.

Panisch drückte ich den Rückspulknopf am Boden der Kamera, klappte die Kurbel aus und begannt, den Film zurück zu spulen. Ich fühlte einen kurzen Moment Widerstand. Dann war es vorbei.

„Hans“, ich bekam nur ein Flüstern heraus. Wir fuhren bereits wieder auf der Autobahn, in 15 Minuten würden wir in der Redaktion sein. „Hans, ich glaube, der Film ist gerissen…“

Ich erntete einen schnellen scharfen Blick von der Seite, bevor der Redakteur seine Augen wieder auf die Straße richtete. „War es ein neuer Film?“ fragte er knapp. Ich nickte. „Ein 36er?“ „Ja.“ „Dann hoffe ich für Dich, dass Du die spannenden Motive auf diesen 36 Bildern drauf hast.“ Ich nickte. Mein Herz klopfte.

Schock in der Dunkelkammer

Zurück in Düsseldorf rannte ich mit kalkweißem Gesicht am Balken vorbei in die Fotobude, schmiss meine Tasche auf den Boden und stand in der Drehtür zum Labor, bevor mir irgendjemand der inzwischen von ihren Terminen zurück gekehrten Kollegen irgendwelche Fragen stellen konnte. Ich durchquerte das rot illuminierte Printlabor, nahm die zweite Schleuse. Auf der Arbeitsplatte im Filmlabor legte ich mir Kamera, Schere, Klammern und Bügel zurecht, bevor ich das Licht löschte. Dann atmete ich tief durch, ließ einen Moment die Dunkelheit auf mich wirken. Und öffnete die Kamera. Meine Fingerspitzen ertasteten die rechte Spule. Sie war leer. Die Finger wanderten weiter nach links und berührten den Verschluss. Noch weiter links fanden sie die Filmpatrone. Der Film war komplett eingespult.

Ich hielt inne. Ich spürte ein Kribbeln in meinen Unterarmen, und einen kurzen Moment lang wurde mir schwindelig. Ich wusste, was es bedeutete.

Dennoch nahm ich die Filmpatrone aus der Kamera, setzte den Grad ihres Deckels am Rand der Arbeitsplatte an und knackte ihn durch einem kurzen Schlag meines Handballens von oben. Die Patrone gab ihren Inhalt frei. Wie in Trance rollte ich den Film ab, klammerte ihn an den Bügel, fädelte das Gewicht ein und versenkte den Film im Entwicklungstank. Deckel drauf. Licht an. Uhr an. Sie begann zu ticken. 6,5 Minuten.

Fünf Minuten, drei Minuten, eine Minute, 30 Sekunden… Licht aus, Deckel auf, Film raus, Stopptank, dann in den Fixierer. 10 Sekunden. Licht an. Gewissheit.

Die totale Leere

Der Film war vollkommen leer.

Ich hatte einen Fehler beim Einlegen des Filmes gemacht. Die Zähne der Spule hatten ihn nicht gepackt und deshalb auch nicht weiter transportieren können. Ich hätte das merken müssen. Ich hatte es nicht. Mir war schlecht.

Die Lichtschleuse bewegte sich. Hans erschien, sah mich erwartungsvoll an. Und als ich wortlos den Kopf schüttelte, verdüsterte sich sein Blick. In diesem Augenblick war ich ganz sicher, dass dies der letzte Fotoeinsatz meines Lebens gewesen war…

In diesem Haus…

Um nicht ohne jedes Bild dazustehen, fuhr ich allein zurück nach Mönchengladbach. Im Dunkeln fotografierte ich das Haus von außen, das am nächsten Tag als Briefmarke im Artikel eingeklinkt wurde. Am nächsten Tag stand in der BU unter dem Bild: „In diesem Haus passierte es: Hier raubten bisher unbekannte Täter den Juwelier Werner G. aus.“

Nachtrag

Ich durfte Teil der Fotoredaktion bleiben. Diesen Fehler habe ich nur einmal in meinem Leben gemacht. Und seit ich auf digital umgestellt habe, deaktivierte ich bei jeder neuen Kamera als erstes die Option „Auslösen ohne Karte“.

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