Das Ritual – In Touch with Wetplate (Reloaded)
Ich schaue aus dem Fenster des Busses und lasse Düsseldorf an mir vorbei fließen. Meine Hände liegen in meinem Schoß. In meinen Händen liegt eine Platte gewalztes Glas. Schwarz. 10×10 Zentimeter. Eine Wetplate.
Düsseldorf ist mir vertraut. Hier bin ich geboren, aufgewachsen in einem Vorort. Hier habe ich meine Ausbildung gemacht, meine ersten Handgriffe im Fotolabor, meine ersten selbst gemachten Fotos selbst entwickelt. Das ist 26 Jahre her. Seither habe ich ungefähr eine halbe Million mal auf den Auslöser einer Kamera gedrückt.
Das Bild
Die schwarze Glasplatte riecht nach Lavendel. Ich lasse meine Fingerspitzen über ihre unebenen Ränder gleiten. Und dann vorsichtig über die Beschichtung. Sie fühlt sich an, als könnte ich sie mit dem Fingernagel eindrücken. Irgendwie dick und irgendwie weich. Ich widerstehe dem Impuls es zu versuchen.
Die Digitalisierung hat die Fotografie sehr schnell gemacht. High End Kameras schaffen 14 Bilder pro Sekunde. Vielleicht auch schon mehr, ich bin nicht auf dem Laufenden. Aus den Sequenzen lassen sich Filme erstellen. Einem Sportfotografen entgeht kein wichtiger Moment mehr. Außer er steht ungünstig.
Die Digitalisierung hat die Fotografie sehr einfach gemacht. Jeder kann heute fotografieren. Den meisten gelingen schöne Fotos, weil die Kameras leicht zu bedienen sind und die Hilfsprogramme immer intelligenter werden. Und weil das Internet unendliche Informationen zur Bildgestaltung bereit hält. Goldener Schnitt, Bildbearbeitung, Druckvorbereitung, zu allem kann sich jeder informieren. Die Fotos sieht man in Fotocommunities, in den sozialen Netzwerken, und ab und an an den Wänden derer, die sie aufgenommen haben. Es sind wirklich viele schöne Fotos geworden. Unendlich viele.
Ich schaue auf die Glasplatte in meinen Händen. Ich schaue mein Bild an. Fast eine Stunde hat es gedauert, dieses eine Bild zu machen. Dieses eine und einzige.
Vernon Trent – Der Alchemist
Vernon hat es gemacht.
Er hat die Glasplatte zugeschnitten, sie von Fett und Staub befreit. Er hat Kollodiummixtur auf die Platte aufgetragen und sie in Silbernitratlösung lichtempfindlich gemacht.
Er hat mich vor dem Petzvalobjektiv der Shen-Hao-Großformatkamera platziert, auf der Mattscheibe scharf gestellt. Den Halter mit der lichtempfindlichen Glasplatte montiert, mich eindringlich angesehen. Gesagt: „Nun nicht mehr bewegen und Luft anhalten.“ Und dann hat er den Objektivdeckel abgenommen. Und gezählt.
5. 4. 3. 2. 1.
Objektivdeckel wieder drauf. Ausatmen.
Im Rotlicht der Dunkelkammer hat Vernon die Glasplatte dann entwickelt, fixiert und mit einem Firniss versiegelt. Alles mit Muße. Alles mit Ruhe. Alles mit Präzision. Dabei roch es mal nach Essig, mal nach Mandel. Und zuletzt nach Lavendel.
Komponieren statt knipsen
Auf diese Weise zu fotografieren bedeutet zu komponieren. Der Prozess ist wie ein sinnliches Ritual. Ein Ritual, das daran erinnert, wie unikat ein Moment ist. Wie der Augenblick riecht, in dem ein Bild sichtbar wird. Wie ein Bild sich anfühlt. Und dass es wert ist, geschützt und versiegelt zu werden.
Weil es dieses Bild nur einmal gibt.
Folgt mir in Vernons Labor
Setzt die Kopfhörer auf, lehnt Euch zurück und genießt den Prozess.